Bochum, damals Bahnhof, heute leerstehendes Gebäude
»So legte sich dann auch beim Einsatz der frühen Dämmerung eine Art lähmende Erstarrung über die wimmelnde Menschenmasse. Die letzten Wollsachen waren verteilt, Hunger und Durst waren gestillt, die guten Feen vom jüdischen Frauenverein waren heimgekehrt. Die Kinder hatten in den schützenden Armen ihrer Mütter Ruhe gefunden, schliefen auf ihrem Schoß oder zu ihren Füßen und gaben so vielleicht ein wenig ihrer vertrauensseligen Gewissheit an ihre Umgebung ab.
Als es dann um 22.30 Uhr hieß: ›Alle auf den Bahnsteig‹, erlebten wir eine Massenpsychose reinster Ausprägung: Alles hetzte, drängte, obwohl doch keiner diesen Augenblick herbeigesehnt hatte. Die Erregung stieg zu einem Höhepunkt, als ein entferntes Signal das Nahen des Zuges ankündigte. Es stieg wie ein Stöhnen und Schluchzen eines einzigen großen Wesens auf, und im gleichen Augenblick klammerten sich die Hände der umstehenden Frauen und Kinder an uns, die wir ihnen wie eine feststehende Stütze vorkamen.«
(Ottilie Schoenewald, 1955)
